Literaturrezeption in der Schule. Eine empirisch vergleichende Studie in Grundschule, Sekundarstufe I und Gymnasium

PROJEKTVERANTWORTLICHER

  • Dr. Felix Heizmann (Heidelberg School of Education, PostDoc bis 12/2018)

EINBETTUNG DES FORSCHUNGSPROJEKTES IN DEN AKTUELLEN DEUTSCHDIDAKTISCHEN KURS

Seit den großangelegten Schulleistungsuntersuchungen wie PISA, DESI und IGLU ist das Thema ‚Lesekompetenz‘ in aller Munde und ihre Förderung hat im gesellschaftlichen Bewusstsein einen hohen Grad an sozialer Erwünschtheit erreicht. Die alarmierenden Befunde der Studien haben sich insbesondere auf den Deutschunterricht als „wichtigste Sicherungsagentur für das Lesen“ ausgewirkt (Hurrelmann 2003, S. 11). Nicht selten wird seine zentrale Aufgabe in der Vermittlung von Lesestrategien gesehen, deren Einsatz Schülerinnen und Schüler bei der kognitiven Verarbeitung von Informationen aus (Sach-)Texten unterstützen soll (vgl. u. a. Philipp, Schilcher [Hg.] 2012).

Zunehmend haben allerdings kritische Stimmen eingewendet, dass mit dieser Entwicklung eine Marginalisierung des Umgangs mit Literatur einhergehe, der zunehmend als außerschulisches ‚Privatvergnügen‘ deklariert werde. Diese Tendenzen lösten eine kontroverse Debatte über die gegenwärtige und zukünftige Bedeutung ‚literarischen Lernens‘ in der Schule aus (vgl. z. B. Spinner 2006; Wintersteiner 2007), die sich als kritische Antwort auf die Dominanz des eher pragmatisch ausgerichteten Lesekompetenzbegriffs verstehen lässt, weil man der Meinung ist, dass Schülerinnen und Schüler in der Auseinandersetzung mit Literatur spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten wie ästhetische und sprachliche Sensibilität, Selbst- und Fremdverstehen, Vergnügen, Ambiguitätstoleranz und Teilhabe am kulturellen Gedächtnis entwickeln können, deren Anbahnung Konzepte zur Leseförderung nur unzureichend berücksichtigen.

AUSGANGSHYPOTHESEN

In diesem Spannungsfeld positioniert sich das Forschungsprojekt „Literaturrezeption in der Schule“, das im Überschneidungsbereich von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und empirischer Bildungs- bzw. Unterrichtsforschung angesiedelt ist. Es konturiert im Anschluss an aktuelle bildungstheoretische Positionen literarisches Lernen als eine ‚Erfahrungsbewegung‘, die sich im gemeinsamen Tun und Miteinandersein ereignen und speziell durch „Diskrepanzerfahrungen“ angestoßen werden kann (Combe, Gebhard 2012, S. 31). Diese können Lernende zwar beunruhigen und irritieren, führen aber nicht zu existentiellen Erschütterungen, die tiefe Spuren in ihrem Lebenslauf hinterlassen, wie es bei ‚Krisen‘ der Fall ist. Vielmehr sind sie als Auslöser und Triebfeder ausgeprägter Lernprozesse zu verstehen, indem sie die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden erregen und sie zu intensiver „Sinnarbeit“ (Birkmeyer u. a. 2015, S. 28) stimulieren, in deren Verlauf es zu einer Veränderung ihrer Denk- und Handlungsmuster kommen kann. Gerade der Begegnung mit ‚ästhetisch anspruchsvoller‘ Literatur kommt die Qualität zu, solche Diskrepanzerfahrungen zu induzieren, da sie mit ungewohnten Sicht-, Denk-, Sprech- und Darstellungsweisen konfrontieren und somit eine Erweiterung des bisherigen Erfahrungs- und Verstehenshorizonts evozieren kann.

ZIELSETZUNGEN

Das Projekt möchte einen schularten- und schulstufenübergreifenden Beitrag zur Diskussion um literarisches Lernen leisten, indem es der Frage nachgeht, wie sich solche Lernprozesse vom Primarbereich als der grundlegenden und alle Kinder einbeziehenden Schulart über die ganze Breite des Sekundarbereichs bis in die gymnasiale Oberstufe konkret vollziehen. Dabei ist von besonderem Interesse, welche Praktiken der Bedeutungsaktualisierung in der Beschäftigung mit ästhetisch anspruchsvollen Texten im Unterrichtsgeschehen der jeweiligen Schularten und -stufen zutage treten, welche handlungsleitenden Orientierungen sich darin dokumentieren, wie sich diese im Verlauf der schulischen literarischen Sozialisation verändern und ob bzw. wie didaktische Konzeptionen positiven Einfluss darauf nehmen können.

AUFBAU UND REALISIERUNG DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG

DATENERHEBUNG

Die Studie basiert auf der mehrfachen Audiographie Literarischer Unterrichtsgespräche im Klassenverband (vgl. Härle 2014), die Lehrpersonen in den erwähnten Schularten und Schulstufen im Regelunterricht leiten.

DATENAUFBEREITUNG

Die Transkription der Gespräche erfolgt nach GAT 2-Konventionen.

DATENAUSWERTUNG

Bei der Analyse und Interpretation der Transkripte kommt die dokumentarische Methode zum Einsatz (vgl. Asbrand, Martens 2018), die sich mittlerweile auch zu einem Instrument der fachdidaktischen Unterrichtsforschung weiterentwickelt hat. Ihre praxeologische Analyseeinstellung gestattet es, die Praktiken und handlungsleitenden Orientierungen der Schülerinnen und Schüler bei der Literaturrezeption zu rekonstruieren und in eine (zweidimensionale) sinngenetische Typenbildung zu überführen. Darüber hinaus ermöglicht die Methode mittels komparativer Analyse nachzuzeichnen, wie sich die Denk- und Handlungsmuster der Lernenden im Verlauf der schulischen literarischen Sozialisation wandeln, was in einer (soziogenetischen) Entwicklungstypik erfasst wird (vgl. Bohnsack, Hoffmann, Nentwig-Gesemann [Hg.] 2018).

LITERATUR

  • Asbrand, Barbara; Martens, Matthias (2018): Dokumentarische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer VS
  • Birkmeyer, Jens u. a. (2015): Lernen und Sinn. Zehn Grundsätze zur Bedeutung der Sinnkategorie in schulischen Bildungsprozessen. In: Sinn im Dialog. Zur Möglichkeit sinnkonstituierender Lern-prozesse im Fachunterricht. Hg. von Ulrich Gebhard. Wiesbaden: Springer VS, S. 9-31
  • Bohnsack, Ralf; Hoffmann, Nora Friederike; Nentwig-Gesemann, Iris (Hg.) (2018): Typenbildung und Dokumentarische Methode. Forschungspraxis und methodologische Grundlagen. Opladen; Berlin, Toronto: Barbara Budrich  
  • Combe, Arno; Gebhard, Ulrich (2012): Verstehen im Unterricht. Die Rolle von Phantasie und Erfahrung. Wiesbaden: Springer VS
  • Härle, Gerhard (2014): „... und am Schluss weiß ich trotzdem nicht, was der Text sagt“. Grundlagen, Zielperspektiven und Methoden des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: „Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander“. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis. Hg. von Marcus Steinbrenner, Johannes Mayer, Bernhard Rank und Felix Heizmann. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2., korrigierte und ergänzte Auflage S. 29-66
  • Hurrelmann, Bettina (2003): Leseleistung – Lesekompetenz. Folgerungen aus PISA, mit einem Plädoyer für ein didaktisches Konzept des Lesens als kulturelle Praxis. In: Praxis Deutsch, Sonderheft, S. 10-21
  • Philipp, Maik; Schilcher, Anita (Hg.) (2012): Selbstreguliertes Lesen. Ein Überblick über wirksame Leseförderungsansätze. Seelze: Kallmeyer in Verbindung mit Klett
  • Spinner, Kaspar H. (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch, Jg. 33, H. 200, S. 6-16
  • Wintersteiner, Werner (2007): Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Deutschdidaktik im Sog gesellschaftlicher Interessen. Ein historischer Versuch. In: Didaktik Deutsch, Jg. 13, H. 22, S. 51-70