Moderne Retextualisierungen mittelalterlicher Literatur – verfälschte Darstellungen des Mittelalters oder wichtiges Tor zu mittelalterlichen Welten?

PROJEKTVERANTWORTLICHE

  • Dr. Annelie Kreft (Heidelberg School of Education, PostDoc bis 12/2018)

PROJEKTBESCHREIBUNG

Das Mittelalter ist populär. Wieder- bzw. Nacherzählungen mittelalterlicher Text für Kinder- und Jugendliche erfreuen sich großer Beliebtheit. Gegenüber ihren Quellen weisen die modernen Texte oftmals erhebliche Eingriffe und Veränderungen auf.

In der Forschung werden die modernen Wieder- bzw. Nacherzählungen mittelalterlicher Vorlagen unterschiedlich beurteilt. In der Fachdidaktik werden sie als wichtiges Tor zu mittelalterlichen Welten gesehen, weil sie einen belangvollen Beitrag zum Auf- und Ausbau eines ausdifferenzierten Geschichtsbewusstseins leisten könnten. In der (mediävistischen) Fachwissenschaft dagegen werden die modernen Nacherzählungen als verfälschte Darstellungen des Mittelalters gewertet, weil sie wegen der Angleichung von Handlungslogik und Figurenkonzeption an moderne Vorstellungen verfälschende Zeit- und Figurenbeschreibungen böten, so dass sie den mittelalterlichen Denkstrukturen nicht gerecht würden und den historischen Eigenwert der Originaltexte vernachlässigten.

Angesichts dieser Divergenz in der Beurteilung durch die Forschung ist es das Anliegen des Forschungsprojekts, anhand einer vergleichenden Analyse von modernen Nacherzählungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur und ihren mittelalterlichen Vorlagen zu prüfen, inwieweit die Kritik der Forschung an den modernen Nacherzählungen berechtigt ist und ob die Veränderungen gegenüber den mittelalterlichen Quellen tatsächlich verfälschend und so gravierend sind, dass diese Texte sich nicht dazu eignen, Kindern und Jugendlichen die Welt des Mittelalters und ihre Denkformen nahezubringen. Zudem wird untersucht, worin die konträre Beurteilung der modernen Nacherzählungen durch Fachwissenschaft und Fachdidaktik begründet liegt.

Die theoretische Grundlage für die vergleichende Analyse der modernen Nacherzählungen und ihrer mittelalterlichen Vorlagen bildet der Begriff der Retextualisierung. Er wurde von der rezenten mediävistischen Forschung geprägt, um das spezifisch mittelalterliche literarische Verhalten des erniuwens, des Wiedererzählens zu beschreiben, dessen Aufgabe u. a. in der Vermittlung von Stoff- und Erzähltraditionen besteht. Anders als bei moderner Literatur gilt bei mittelalterlicher Literatur nicht die Originalität, sondern die Überliefertheit des Erzählten als Qualitätsmerkmal. Einen entscheidenden Aspekt bildet dabei die Anpassung des Stoffes bzw. der Vorlage, die wiedererzählt wird, an die jeweilige konkrete zeitgenössische Lebens- und Gebrauchssituation des Zielpublikums. Diese Adaptation an zeitgenössische Verständnismöglichkeiten und Interessen ist mit erheblichen Eingriffen in den Ausgangstext verbunden, die üblich und hochgeschätzt waren.

Da auch die modernen Nacherzählungen Adaptationen sind, indem sie mittelalterliche literarische Stoffe an die modernen Interessen und Verständnismöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen anpassen, wird der Begriff der Retextualisierung mit dieser Untersuchung erstmals auf den Vergleich moderner Wiedererzählungen mit ihren mittelalterlichen Vorlagen übertragen. Vor dem Hintergrund der Divergenz in der Beurteilung der modernen Kinder- und Jugendbücher durch Fachwissenschaft und Fachdidaktik beschränkt sich die Untersuchung aber nicht darauf herauszuarbeiten, wie ein mittelalterlicher literarischer Stoff im modernen Kinder- und Jugendbuch wiedererzählt wird, sondern prüft insbesondere auch, wie es mit dem spezifisch Mittelalterlichen der Vorlage umgeht, was und in welcher Weise davon transportiert wird und ob das, was transportiert wird, dazu geeignet ist, dem Rezipienten etwas über das deutsche bzw. europäische Mittelalter zu vermitteln.