Didaktische Videos ansehen vs. Texte lesen in einer Herkunftssprache: Am Beispiel des Italienischunterrichts

EINE QUANTITATIVE UND QUALITATIVE ANALYSE DER LERNMOTIVATION UND DES LERNZUWACHSES VON SCHÜLER/INNEN

ENGLISCHER TITEL

Watching Didactical Videos vs. Reading Texts in Students’ Heritage Language: The Case of Italian School Lessons. A Quantitative and Qualitative Analysis of Pupils’ Motivation and Learning Achievements

PROJEKTVERANTWORTLICHER

  • Dr. Nicola Brocca (Heidelberg School of Education, PostDoc bis 12/2018)

PROJEKTPARTNER

  • Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration Köln
  • Schulamt des Märkischen Kreises

1. RELEVANZ

In der Migrationsgesellschaft wächst die Nachfrage nach mehrsprachiger Erziehung. Der herkunftssprachliche Unterricht (HSU) fördert bereits seit mehreren Jahren das Sprachpotenzial der SchülerInnen mit Migrationshintergrund.

Trotzdem gelingt es einem Teil der SchülerInnen nicht, etwaigen Unterrichtssettings zu folgen, unter anderem, weil das Niveau sie über- oder unterfordert. Die Anwendung von Lernvideos, die im Unterricht und/oder zu Hause als Flipped Classroom (Alvarez 2011) als Lernmaterial eingesetzt werden, könnte diesen SchülerInnen helfen, ihr eigenes Lerntempo zu bestimmen und damit bessere Ergebnisse zu erzielen. Allerdings besteht für dieses didaktische Medium in der Fremdsprachendidaktik im schulischen Bereich noch umfassender Forschungsbedarf. (Eine Ausnahme bilden Strathmann 2009, Condie und Munro 2007, Strayer 2012).

Das Hauptziel des Projekts liegt in der Entwicklung fundierter fachdidaktischer Ansätze, welche die Heterogenität der Lernziele und das Potenzial der neuen Technologien ins Zentrum der Lehre stellen. Zu diesem Zweck wird mit Unterrichtsbeobachtungen und Experimentalverfahren ein Vergleich zwischen den Ergebnissen von dem Einsatz von Lern- oder Impulsvideos auf der einen und schriftlichen Texten auf der anderen Seite gezogen.

Der Fall des Unterrichts des Italienischen als heritage language gilt als Prüfstein für die Bildungs- und Sozialforschung. Italienische Migranten und Migrantinnen zählen in Deutschland zu der viergrößten Gruppe von Einwanderern; aufgrund ihrer Abschlüsse im deutschen Schulsystem gelten die Italiener als Bildungsverlierer (Schmitz 2015). Effektive fachdidaktische Ansätze für diese Lerngruppe zu finden, kann schulische Erfolgs- und Integrationschancen erhöhen und nachhaltig sichern. Darüber hinaus können sie fortlaufend weiterentwickelt werden (Gogolin 2009).
Der sprachwissenschaftliche Fokus liegt auf dem Spracherwerb im Lexikonbereich. Weil die Kommunikationsfähigkeit stark mit lexikalischer Kompetenz korreliert, ist die Förderung des lexikalischen Erwerbs besonders zu berücksichtigen.

Aus didaktischer Sicht ist es hingegen besonders interessant, die Motivation im HSU-Kontext zu untersuchen. Der HSU gehört nicht zum Standardunterricht, sondern stellt ein „freiwilliges Angebot“ dar. Einerseits können dadurch innovative Methoden wie Gruppenaktivitäten, die u. a. von der heterogenen Komposition der Gruppe profitieren, oder Simulationen wie Rollenspiele einfach umgesetzt werden, da es ohne Prüfungen und strikte Lehrpläne weniger Zeitdruck und mehr Freiheit hinsichtlich der Lehrplanung gibt. Andererseits können Herausforderungen wie die schwankende Zahl der Teilnehmenden durch z. B. Kursabbruch oder Überlappungen mit weiteren schulischen Veranstaltungen den Unterricht und den Einsatz didaktischer Methoden erschweren.

Das Innovationspotenzial des Projekts liegt in dem Einsatz von aktuellster Medientechnik, die der Förderung der digitalen Kompetenzen gemäß der Strategie der Kulturministerkonferenz (KMK 2016) dienen.

2. VORGEHENSWEISE

Es werden zirka 50 SchülerInnen der Sekundarstufe I aus vier HSU-Klassen ausgewählt, die laut eines C-Tests das Niveau B1 des GER (Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen) erreicht haben. Während davon 25 mit traditionellen Text-basierten Inputs unterrichtet werden, besuchen die restlichen 25 einen Video-unterstützten Unterricht. In beiden Gruppen werden die gleichen Themen behandelt und zum Teil die gleichen Aufgaben gestellt; außerdem werden sie von den gleichen Lehrkräften unterrichtet. Um eine Vergleichbarkeit herzustellen, werden für das quantitative Experiment nicht-linguistische Kriterien (Lerntypologie, Alter, Geschlecht, Lernbiografie, weitere Persönlichkeitsmerkmale etc.) berücksichtigt und gegebenenfalls abweichende Probanden aus der Analyse aussortiert.

Die benötigten Lernvideos werden in enger Zusammenarbeit mit der Lehrkraft erstellt, die den Unterricht erteilt. Die aus dem Unterricht resultierenden Ergebnisse bilden Erkenntnissen auf, die in die folgende Unterrichtsplanung einfließen. So arbeiten Forscher und Lehrkraft in Rahmen eines Design-Based-Reseach-Modells eng zusammen. Hierbei ist es von Vorteil, dass mir das Forschungsfeld sehr vertraut ist, da ich selbst in diesem Kontext, allerdings in anderen Klassen, unterrichtet habe.

Die 50 SchülerInnen werden zweimal hinsichtlich ihrer lexikalischen Kompetenzen und ihrer Motivation getestet:

  1. Ein Pretest legt ihr Sprachniveau und ihre Kenntnisse der Präpositionen fest.
  2. Ein Posttest legt ihren Spracherwerb nach Abschluss der experimentellen Phase fest.

Qualitative Daten werden während der Unterrichtsbesuche erhoben.

Im Sprachtest sollen die SchülerInnen Bilder beschreiben, die die schriftliche und mündliche Textproduktion auslösen. Die von den Ergebnissen abhängige Variabel, die untersucht wird, besteht folglich aus dem sprachlichen Output der Lernenden: Beobachtet wird, ob die Lernenden der Kontrollgruppe (traditioneller textueller Input) im Gegensatz zu der Experimentgruppe (Video-Input) unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Um die Lernmotivation auszuwerten, wird eine quantitative Analyse durch den Einsatz von Fragebögen durchgeführt (Beckmann 2016, Venus 2017). Diese basiert auf der erprobten AMTB (Attitude/Motivation Test Battery, Bernaus 2008) und auf der Grundlagenforschung von Helmke & Weinert (1997).

Es folgt eine quantitative Datenanalyse nach statistischen Methoden (ANOVA für den Vergleich zwischen den Gruppen und die Regressionsanalyse, um das Verhältnis zwischen dem Unterrichtssetting und der sprachlichen Produktion herauszufiltern), die die Lehr-Lern-Settings auswerten kann (Caspari et al. 2016; Levshina 2015).

Um die geringe Zahl der Probanden zu kompensieren, wird zusätzlich eine qualitative Analyse anhand von Unterrichtsbeobachtungen nach dem Grounded Theory-Ansatz (Glaser und Strauss 2009) durchgeführt. Die Daten werden hierbei durch Videoaufnahmen der Unterrichtstunden, eigene Notizen aus den Unterrichtsbesuchen, informelle Gespräche mit Lernenden, der jeweiligen Lehrkraft und mit einigen Eltern erhoben (Doff 2012).

3. HYPOTHESE

Es wird postuliert, dass SchülerInnen, die mit audiovisuellen Lernmaterialien arbeiten, den Wortschatz anders erwerben als SchülerInnen, die nur einen textuellen Input erhalten.

Je nach Medium ergeben sich Unterschiede in der didaktischen Aufbereitung des Materials bzw. hinsichtlich der fachdidaktischen Ansätze durch die Lehrkräfte: Ein differenzierter und selbstgesteuerter Lernprozess wird mit dem Einsatz des digitalen Mediums mehr gefördert als in der Kontrollgruppe. Wenn die SchülerInnen ihren Bedürfnissen entsprechend und damit motivierter und differenzierter gelernt haben, werden die Ergebnisse der Experimentgruppe der Zielvarietät näher sein als der Output der Kontrollgruppe, die ausschließlich mit einem textuellen Input gelernt hat.

Demgegenüber hat die qualitative Forschung nach der Grounded Theory nicht das Ziel, eine Hypothese zu verifizieren oder zu falsifizieren. Sie wird im Laufe des Forschungsprozesses entwickelt und soll Theorien generieren. Die Forschungsphasen „Datenerhebung“, „Kodieren“ und „theoretische Memos schreiben“ wechseln sich spiralartig ab. Deswegen wird bereits während der experimentellen Phase angefangen, die erhobenen Daten zu kodieren, was gegebenenfalls zu veränderten oder neuen Fragen im Verlauf der nachfolgenden Datenerhebungen führt.

4. ROAD MAP

Der Ablauf der experimentellen Phase mit den schulischen Partnern wurde von November 2017 bis April 2018 durchgeführt.

5. LITERATURANGABEN

  • Das Videomaterial ist auf folgender Webseite zu sehen: https://www.youtube.com/channel/UCIS0TpCAuhMxZoMTx4me6Lg, zuletzt aufgerufen am 17.05.2018.
  • Beckmann, Christine (2016): Lernziele im Fremdsprachenunterricht. Eine quantitative Analyse der Einstellungen von Schülern und Studierenden. Tübingen: Narr Francke Attempto.
  • Bergmann, Jon; Sams, Aron (2012): Flip your classroom. Reach every student in every class every day. International Society for Technology in Education. Online verfügbar unter http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&scope=site&db=nlebk&db=nlabk&AN=475951., zuletzt aufgerufen am 17.05.2018.
  • Bernaus, Mercè (2008): Teacher Motivation Strategies, Student Perceptions, Student Motivation, and English Achievement. Malden, USA: Blackwell Publishing.
  • Burmeister, Petra (2006): Immersion und Sprachunterricht im Vergleich, in: Pienemann M., Keßler J., Roos E. (Hg.): Englischerwerb in der Grundschule. Paderborn: Schöningh, 197–216.
  • Caspari, Daniela; Klippel, Friederike; Legutke, Michael; Schramm, Karen (Hg.) (2016): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag.
  • Cecchinato, Graziano; Papa, Romina (2016): Flipped classroom. Un nuovo modo di insegnare e apprendere. Novara: UTET.
  • Cobb, Paul; Confrey, Jere: diSessa, Andrea; Lehrer, Richard; and Schauble, Leona: (2003). Design Experiments in Educational Research. Educational Researcher 32(1), 9–13.
  • Condie, Rae; Munro, Bob (2007): The impact of ICT in schools. Landscape review. Online verfügbar unter http://dera.ioe.ac.uk/1627/7/becta_2007_landscapeimpactreview_report_Redacted.pdf, zuletzt geprüft am 24.03.2017.
  • Doff, Sabine (2012): Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Tübingen: Narr Verlag. Online verfügbar unter http://gbv.eblib.com/patron/FullRecord.aspx?p=3032773.
  • Glaser, Barney G.; Strauss, Anselm L. (2009): The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research. New Brunswick: Aldine.
  • Gogolin, Ingrid (2009): Chancen und Risiken nach Pisa – Über die Bildungsbenachteiligung von Migrantenkindern und Reformvorschläge, in: Auernheimer, Georg (Hg.): Schieflagen
  • im Bildungssystem: Die Benachteiligung der Migrantenkinder, Wiesbaden: Springer, 33–50.
  • Helmke, Andreas; Weinert, Franz E. (1997): Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen, in: Weinert, Franz E.  (Hg.): Enzyklopädie der Psychologie, Band 3 [Psychologie der Schule und des Unterrichts].  Göttingen: Hogrefe-Verlag, 71–176.
  • KMK: Sekretariat der Kultusministerkonferenz (Hg.) (2016): Bildung in der digitalen Welt Strategie der Kultusministerkonferenz. Eigendruck. http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2016/Bildung_digitale_Welt_Webversion.pdf. Zuletzt aufgerufen am 15.05.2018.
  • Levshina, Natalia (2015): How to do Linguistics with R. Data exploration and statistical analysis. Philadelphia: John Benjamins Publishing Company.
  • Müller, Natascha; Schmitz, Katrin (2009): Deutsch im Kontakt mit Italienisch: Das bilinguale Individuum, in: Elmenthaler, Michael (Hg.): Deutsch und seine Nachbarn. [Kieler Forschungen zur Sprachwissenschaft]. Frankfurt am Main: Peter Lang, 149–167.
  • Paivio Allan (2014): Intelligence, dual coding theory, and the brain, in: Intelligence 47, 141–158.
  • Strayer, Jeremy F. (2012): How learning in an inverted classroom influences cooperation, innovation and task orientation. Learning Environments Research 15(2), 171–193.
  • Strathmann, Jochen (2009): „Schulischer Fremdsprachenerwerb im „Blended Learning‘-Verfahren. ,E-Learning‘ für den Italienisch- und Spanischunterricht nach der Methode ,EuroCom‘“, in: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 14, 19–40.
  • Schmitz, Katrin (2015): Der Erwerb von Herkunftssprachen am Beispiel des Spanischen, Präsentation anlässlich der Fachtagung „HerkunftssprecherInnen im Fremdsprachenunterricht: Integrative Konzepte und Spracherhalt“ der Universität Duisburg-Essen am 08.05.2015.
  • Venus, Theresa (2017): Einstellungen als individuelle Lernervariable: Schülereinstellungen zum Französischen als Schulfremdsprache – Deskription, Korrelationen und Unterschiede. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag.