Das Lesen von der Grundschule bis zur Pubertät: Wie werden männliche Jugendliche zu Lesern?

ERIC SASSE

Eric Sasse
  • Grundschullehrer für Deutsch und Englisch
  • Rektor der Deutschorden-Grundschule Heilbronn
  • Teilzeitabordnung (50%) im Projekt PLACE vom 01.09.2017–31.08.2019

EIN PROJEKT ZUR FÖRDERUNG DES LITERARISCHEN LESENS UND DER LESEFREUDE VON JUNGEN UND MÄNNLICHEN JUGENDLICHEN DURCH DIE VERBINDUNG VON LITERARISCHEN GESPRÄCHEN UND VORLESEN (ABSCHLUSSBERICHT)

AUSGANGSLAGE: LESEN IM GESELLSCHAFTLICHEN KONTEKT UND IN DER SCHULE

Jungen lesen nicht so gerne wie Mädchen und zudem auch weniger. Diese These scheint sich nicht nur in Alltagsbeobachtungen als wahr zu erweisen, vielmehr belegen sie ebenfalls viele empirische Untersuchungen und nicht zuletzt auch zahlreiche Programme zur Leseförderung für Jungen beispielsweise durch die Stiftung Lesen. Zwar ist ein solch komplexes Phänomen kaum monokausal zu beschreiben, dennoch spielt das kulturelle Männlichkeitskonstrukt unserer Gesellschaft hier sicherlich eine entscheidende Rolle. Lesen, vor allem das Lesen von literarischen Texten, gilt unter heranwachsenden Jungen als vorwiegend weiblich konnotierte Tätigkeit. Da es im häuslichen Kontext einerseits meist die Mütter und in der Schule vor allem Lehrerinnen sind, die den Kindern vorlesen, und viele Jungen deshalb bis zum Ende der Grundschulzeit fast ausschließlich weibliche Lesevorbilder haben, manifestiert sich diese Haltung mit jeder heranwachsenden Generation erneut. Meines Erachtens kommt dem Literaturunterricht in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung zu, da er häufig die einzige Möglichkeit für „literaturferne“ Jungen ist, sich mit literarisch anspruchsvollen Texten auseinanderzusetzen und Freude am Umgang mit ihnen zu entwickeln. Deshalb sind einerseits sinnvolle didaktische Arrangements vonnöten, die Jungen verstärkt berücksichtigen. Andererseits muss auch über eine Auswahl anspruchsvoller literar-ästhetischer Texte, welche Mädchen und Jungen ansprechen und sie zur Bedeutungssinnsuche animieren, diskutiert werden.

KONZEPT UND ZIEL

Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass sich männliche Jugendliche zu Nichtlesern entwickeln, möchte ich zwei bereits bewährte Konzeptionen zur Förderung des Literarischen Lesens und der Lesemotivation zusammenführen und diese dezidiert als Mittel der Jungenförderung im Literaturunterricht etablieren. So scheinen mir auch aufgrund meiner bisherigen Untersuchungen und praktischen Erfahrungen als Grundschullehrer das regelmäßige Vorlesen, wie es Jürgen Belgrad in seinem Projekt „Leseförderung durch Vorlesen“ (PH Weingarten) vorschlägt, und das Literarische Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell, das Gerhard Härle mit seinem Team entwickelte, für ein solches Vorhaben in besonderer Weise geeignet.

Das grundlegende Ziel meines Projektvorhabens war die Förderung des Literarischen Lesens und der Lesefreude der Jungen und Jugendlichen sowie die Beantwortung der Frage, welchen Einfluss das Vorlesen mit einem stimmigen Gesamtkonzept und regelmäßige Literarische Unterrichtsgespräche auf die Lesemotivation und die allgemeine Einstellung der Jungen zu Literatur haben. Um diese Ziele zu erreichen, etablierte ich regelmäßige Literarische Unterrichtsgespräche in Verbindung mit sinnvollen Vorlesearrangements in Modellklassen verschiedener Schularten und ermöglichte damit vielfältige literarische Erfahrungen mit anspruchsvollen literarischen Texten.

DURCHFÜHRUNG

Im Laufe des Projektzeitraums von zwei Jahren nahmen an meinem Projekt insgesamt zwei Grundschulen, zwei Werkrealschulen, zwei Gemeinschaftsschulen und ein Gymnasium mit insgesamt acht Klassen teil. Im Zeitraum von Oktober 2017 bis Juni 2019 führte ich an den Schulen meist im monatlichen Rhythmus Literarische Unterrichtsgespräche nach dem Heidelberger Modell durch. Mein Ziel war es, die Lehrkräfte zu selbst geleiteten LUG zu befähigen und zu motivieren. Dabei versuchte ich, auf die Bedürfnisse der Schulen und Lehrkräfte einzugehen, indem ich sie bei der Textauswahl und der Vorbereitung der Gespräche beriet und die Gespräche zunächst gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern leitete. Im Anschluss an das LUG fanden mit allen Schülerinnen und Schülern ritualisierte Feedbackgespräche im Klassenverband und teilweise auch in Kleingruppen statt.
Neben der Etablierung des LUG war es ein weiteres Ziel meines Projekts, das Vorlesen an Schulen zu professionalisieren und sinnvoll mit dem LUG zu verknüpfen. Die Umsetzung dieses Vorhabens war eine Herausforderung, da die Akteure auf verschiedensten organisatorischen Ebenen angesiedelt sind (Lehrkräfte, ehrenamtliche Pensionär/innen, ältere Schüler/innen, Jugendhelfer/innen etc.). An zwei Schulen fanden Workshops statt, mit denen vor allem ehrenamtlich Vorlesende erreicht wurden, die bislang noch nicht pädagogisch oder didaktisch fortgebildet wurden.
Die literarischen Texte mit möglichen Gesprächsimpulsen wurden schulintern auf verschiedenste Weise gesammelt und so auch Klassen zugänglich gemacht, die nicht direkt am Projekt teilnehmen. Zwei Schulen (Grundschule und Gemeinschaftsschule) besitzen eigene schulinterne Clouds, auf denen die Unterlagen gespeichert und allen Lehrkräften zugänglich gemacht werden konnten.

QUALITATIVE AUSWERTUNG DES PROJEKTS

Aus Zwischen- und Abschlussgesprächen, die in Gruppen durchgeführt wurden, lassen sich erste Rückschlüsse auf die Selbstwahrnehmung der Schüler*innen als Lesende*r ziehen, die neben dem Geschlecht unter anderem auf die Bedeutung der besuchten Schulart hinweisen.

Zusammenfassend zeigt sich, dass das Projekt schulart- und klassenstufenübergreifend überwiegend und zunehmend als gewinnbringend erlebt wurde – sowohl von Teilnehmenden als auch von durchführenden Lehrer*innen:

GRUNDSCHULEN

Die Jungen und Mädchen der Grundschulen nahmen meist mit Neugier und Interesse an den Gesprächen teil. In den Reflexionsgesprächen zeigte sich, dass sowohl Jungen als auch Mädchen das Vorlesen ebenso wie die Literarischen Gespräche schätzten und sich darauf freuten. Auch wenn Genderstereotype in der Grundschule bezüglich des Lesens und der Literatur besonders wirkmächtig sein können, waren hinsichtlich der Haltung der Jungen zum durchgeführten Projekt keine Unterschiede zu den Mädchen erkennbar. Dieser Umstand lässt sich sicherlich nicht allein auf das Projekt zurückführen, es kann aber durchaus als Beitrag zu dieser Entwicklung gesehen werden.

WERKREALSCHULEN UND GEMEINSCHAFTSSCHULEN

In Werkrealschulen, aber auch in Gemeinschaftsschulen, begegneten Schüler*innen sowohl dem Vorlesen als auch – sogar verstärkt – dem Literarischen Gespräch geschlechterübergreifend zunächst tendenziell skeptisch. Auffallend häufig gaben sie an, dass ich hier an ihrer Schule falsch sei und ihrer Meinung nach Literatur und Gedichte eher für Gymnasiasten gedacht wären. Diese Aussagen lassen eine doppelte Schlussfolgerung zu: Einerseits halten sich viele Werkrealschüler*innen für ungeeignet, um literarische Tete zu verstehen, andererseits empfinden sie sich oft auch gar nicht als Adressat*innen von Literatur im Allgemeinen.
Die Abschlussgespräche zeigten sehr eindrücklich, dass eine regelmäßige gemeinsame Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Texten in diesen Schularten nicht nur möglich, sondern in besonderer Weise ertragreich sein können, wenn sich die Kinder und Jugendlichen als kompetente Deuter*innen erleben können. Auch wenn nur einzelne Schüler*innen angaben, nun auch privat mehr literarische Texte zu lesen, waren sich die Klassen relativ einig, dass vor allem die Literarischen Gespräche, die sie zunächst mehrheitlich ablehnten, gemeinsame literar-ästhetische Lernerlebnisse schufen, die von den Schüler*innen als wertvoll erlebt wurden. Das kann zumindest als Hinweis darauf gelten, dass eine durchgehende literarische Förderung eine zukünftige und dauerhafte Selbstwahrnehmung als Lesende*r (für Jungen und Mädchen) wahrscheinlicher machen könnte. Allerdings bildete hier das extreme männliche Genderstereotyp eine Ausnahme: Einige Jungen vertraten bis zum Schluss die Meinung, dass Literatur für sie weder im Allgemeinen (Werkrealschüler) noch für sie als Jungen im Speziellen geeignet oder interessant sei.

GYMNASIUM

In den Reflexionsgesprächen mit Gymnasiast*innen wurde besonders deutlich, dass diese den individuellen Zugang zu Literatur in den Gesprächen schätzten, den sie sehr deutlich vom üblichen analytisch geprägten Literaturunterricht unterschieden.