Den Gesetzgebungsprozess erfahren

Unterrichtsbeispiel
von
  • Studierenden eines Deeper Learning Seminars von Prof. Dr. Anne Sliwka
Fach
  • Gemeinschaftskunde

DEEPER LEARNING IM FACH GEMEINSCHAFTSKUNDE AM BUNSEN-GYMNASIUM HEIDELBERG

Das Bild zeigt den oberen Teil des Reichstagsgebäudes mit der Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE, davor eine Deutschlandfahne.
Bild: Pexels/Ingo Joseph

Der Gesetzgebungsprozess der Bundesrepublik Deutschland ist ein für den Gemeinschaftskundeunterricht vergleichsweise komplex zu veranschaulichendes und meist recht theoretisches Thema. Durch Deeper Learning sollte ein vertieftes und nachhaltiges Verstehen der deutschen Gesetzgebung erreicht werden. Um Deeper Learning in diesem Kontext zu erproben, führten fünf Studierende mit Unterstützung des Gemeinschaftskundelehrers der Projektlasse im Rahmen des Seminars „Lernen im 21. Jahrhundert: Deeper Learning und Universal Design for Learning“ des Instituts für Bildungswissenschaft an der Universität Heidelberg dieses Projekt durch.


PROJEKTÜBERSICHT

THEMA

GESETZGEBUNGSPROZESS BEI ZUSTIMMUNGSGESETZEN

Der Gesetzgebungsprozess ist ein vergleichsweise komplexes Thema, weshalb viel theoretischer Input durch die Lehrkraft notwendig ist. Zudem veranschaulicht der Gesetzgebungsprozess die Aufgaben der einzelnen Institutionen.      

Die Studierenden hielten das Thema für ein geeignetes Projektthema, das für die Lernenden erlebbar und praxisnah gestaltet werden sollte. Durch die Komplexität des Gesetzgebungsprozesses haben sie mit dem Projekt das Deeper Learning Konzept auf seine vielseitige Anwendbarkeit geprüft.

SCHULE UND PROJEKTKLASSE

  • Bunsen-Gymnasium Heidelberg
  • 9. Klasse (Sekundarstufe 1)
  • 22 Schüler:innen

ZEITRAHMEN UND ABLAUF

  • 3 Doppelstunden
  • 3 x 90 Minuten
  • 10.–18.12.2019

ABLAUF

Instruktion und Aneignung Ko-Konstruktion und Ko-Kreation

Authentische Leistung

1 Doppelstunde 1 Doppelstunde 1 Doppelstunde
10.12.2019 17.12.2019 18.12.2019
Kennenlernen & Verständnis des Gesetzgebungsprozesses von Zustimmungsgesetzen & beteiligten Institutionen Fachwissen über Gesetzgebungsprozess erweitern und vertiefen & Erarbeitung von Präsentationsleistung in Gruppen Präsentation des aufgearbeiteten Fachwissens in selbstgewählter Methode & Meta-Reflexion

PLANUNGSPHASE

STUDIERENDENGRUPPE

Für die Entwicklung der Deeper-Learning-Einheit fand sich im Rahmen des Seminars „Lernen im 21. Jahrhundert: Deeper Learning und Universal Design for Learning“ von Prof. Dr. Anne Sliwka im Wintersemester 2019/20 eine Gruppe von fünf Studierenden zusammen. Darunter waren drei Lehramtsstudierende, die das Fach Politikwissenschaft im Master of Education studierten. Die beiden anderen Studierenden belegten den Studiengang Master Bildungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Organisationsentwicklung.

UNTERRICHTSPRAXIS IN DREI PHASEN

Insgesamt standen für dieses komplexe Thema nur drei Doppelstunden (3 x 90 Minuten) zur Verfügung. Aus diesem Grund entschieden die Studierenden sich dazu, jeder Phase des Deeper Learning eine Doppelstunde zu widmen. Die erste Doppelstunde beinhaltete somit die Phase der Instruktion und Aneignung, die zweite die Phase der Ko-Konstruktion und Ko-Kreation, die letzte die Phase der authentischen Leistung sowie die abschließende Reflexion des Projektes.

I. INSTRUKTION UND ANEIGNUNG (1 DOPPELSTUNDE)

Beginnend mit der Instruktion und Aneignung war die Aktivität der beiden Studentinnen, die diese Doppelstunde leiteten, sehr hoch. Die Studentinnen gaben hierfür einen Input, um den Schüler:innen den thematischen Zugang zum Gesetzgebungsprozess in Deutschland zu ermöglichen.

UNTERRICHTSZIEL

Das Ziel dieser Phase war es, dass die Schüler:innen den Gesetzgebungsprozess von Zustimmungsgesetzen in Deutschland kennenlernen und verstehen sollten. Den theoretischen Ablauf des Verfahrens sollten sie nachvollziehen sowie erklären können, welche Institutionen daran beteiligt sind. 

EINFÜHRUNG INS THEMA

DLI Projektdoku Gesetzgebung – Kärtchen legen Hypothesenbildung
Kärtchen legen zur Hypothesenbildung | Bild: © Sittner/Kraus/Dickers

Zum Einstieg in das Thema wurden zwei Fotos an der Tafel aufgehängt. Das eine Foto zeigte eine Schildkröte, die beim Schwimmen im Meer eine Plastiktüte anfraß. Das zweite Foto zeigte einen vermüllten Strand. Die Lernenden sollten die Fotos beschreiben und Vermutungen anstellen, auf welche Problematik diese Bilder aufmerksam machen. Sie kamen schnell darauf, dass es mit den aktuellen Diskussionen rund um Plastikmüll zusammenhängen könnte. Durch ein Lehrer-Schüler-Gespräch wurden die Lernenden in Richtung der Frage geleitet, wie eine verbindliche politische Entscheidung in Form von Gesetzen zustande kommt. Hierfür erhielten alle Lernenden einen Umschlag mit Kärtchen, die Schritte bzw. Institutionen des Gesetzgebungsprozess enthielten. Sie sollten nun in Einzel- oder Partnerarbeit Hypothesen aufstellen, wie der Prozess ablaufen könnte. Dafür sollten sie die Kärtchen in der vermuteten Reihenfolge aufkleben. Im Anschluss diskutierten und begründeten die Schüler:innen die unterschiedlichen Ergebnisse im Plenum.

ERARBEITUNG DES ABLAUFS DES GESETZGEBUNGSPROZESSES

Im zweiten Teil der Stunde erarbeiteten sich die Jugendlichen mithilfe eines Erklärvideos zum Ablauf des Gesetzgebungsprozesses nun die beteiligten Institutionen und den Weg, den ein Gesetz in Deutschland absolvieren muss. Die Klasse wurde in folgende Beobachtungsgruppen eingeteilt:

(1) Bundestag
(2) Bundesrat
(3) Bundesregierung & Bundespräsident

Die Beobachtungsgruppen sollten während des Videos notieren, welche Aufgaben die jeweilige Institution im Gesetzgebungsprozess von Zustimmungsgesetzen hat.

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ERGEBNISSICHERUNG

Im Anschluss an das Erklärvideo sollten die Kleingruppen die unterschiedlichen Beobachtungen zum großen Ganzen des Gesetzgebungsprozesses zusammentragen. Hierfür hatte die Studentin die einzelnen Schritte bzw. Institutionen auf farbigen Kärtchen notiert. Diese wurde mithilfe der Beiträge der Schüler:innen in einem Tafelbild sortiert. Die Studentin hatte also die Möglichkeit, die einzelnen Schritte des Gesetzgebungsprozesses zu besprechen und die Rückfragen der Schüler:innen zu beantworten. Durch die vorgegebenen Karten und das selbstständige Legen dieser konnten die Schüler:innen aktiv und gemeinsam arbeiten.

ABSCHLUSS DER INSTRUKTION UND ANEIGNUNG

Zur Sicherung wurde ein Arbeitsblatt verteilt, das den Gesetzgebungsprozess grafisch abbildete und dem gemeinsam entwickelten Tafelbild entsprach. So konnte Zeit eingespart werden (was bei der knappen zeitlichen Konzeption der gesamten Einheit äußerst wichtig war) und die Schüler:innen konnten sich ausschließlich auf das Nachvollziehen des Gesetzgebungsprozesses konzentrieren.

II. KO-KONSTRUKTION UND KO-KREATION (1 DOPPELSTUNDE)

In der Phase der Ko-Konstruktion und Ko-Kreation war die Aktivität der Lernenden sehr hoch. Die Studierenden beschränkten sich auf Unterstützung und Coaching der Schüler:innen bei der Arbeit in den Kleingruppen. Sie konnten sich in ihrer Lehrer:innenrolle zurückziehen und die Lernenden selbstwirksam arbeiten lassen (Fading).

UNTERRICHTSZIEL

Das Ziel dieser Phase war es, den Lernenden die Möglichkeit zu eröffnen, in selbst gewählten Arbeitsgruppen und auf unterschiedliche Art eine authentische Präsentationsleistung zu erarbeiten. Das Fachwissen der Schüler:innen über den Gesetzgebungsprozess sollte gestärkt werden, indem sich die Jugendlichen vertieft mit den Inhalten der Instruktions- und Aneignungsphase beschäftigen. Hier bestand sowohl die Möglichkeit das Wissen an einem Beispiel anzuwenden (bspw. durch ein Rollenspiel oder ein Plakat) als auch das Gelernte theoretisch wiederzugeben (bspw. durch die Vertonung eines theoretischen Erklärvideos). Die selbstgewählten Gruppen und Formen der Auseinandersetzung mit dem deutschen Gesetzgebungsprozess sollten zusätzlich die Motivation der Lernenden stärken. Des Weiteren wurde fachlich-inhaltlich differenziert, von der reinen Reproduktion und Wissensaufbereitung zu einer neuen Wissensaneignung und Übertragung der Inhalte mit Anwendungsbezug.

EINSTIEG IN DIE KO-KONSTRUKTION UND KO-KREATION

Zum Einstieg in diese Phase  wurde ein Kahoot-Quiz durchgeführt (selbst erstellbares Online-Quiz, das mit Smartphones, Laptops etc. online durchgeführt werden kann). Das Quiz enthielt Fragen, die den gelernten Stoff aus der Instruktionsphase wiederholend behandelten. Durch den spielerischen Einstieg waren die Schüler:innen motiviert sich mit ihren Klassenkamerad:innen zu messen. Gleichzeitig konnten die Lernenden ihren eigenen Wissensstand überprüfen, um einzuschätzen, was in der Erarbeitungsphase der Vertiefung bedurfte. In dem Quiz schnitten die Lernenden trotz der kurzen Instruktionsphase sehr gut ab.

ARBEIT IN DEN KLEINGRUPPEN

Die Lernenden teilten sich selbst in Gruppen ein (moderiert von den Studierenden) und durften eine Präsentationsform wählen. Um die kooperative Arbeit in der Gruppe möglichst vielseitig gestalten zu können, standen drei Präsentationsformen zur Auswahl: Rollenspiel, Videovertonung, Plakat. Die Möglichkeiten wurden von den Studierenden so ausgewählt, dass sowohl die Kreativität als auch die verschiedenen Fähigkeiten und Eigenschaften der Lernenden in unterschiedlichem Maße gefordert wurden, sodass sich jede:r Schüler:in in einer Präsentationsform wiederfinden konnte. Des Weiteren war es den Schüler:innen freigestellt eine andere Präsentationsform zu wählen. Während der Gruppenarbeit standen zudem verschiedene Medien zur Verfügung (Schulbuch, Fachbücher, Internet), um den Lernenden die Arbeit mit dem für sie am besten geeigneten Medium zu ermöglichen. Zudem stellten die Studierenden Bearbeitungshilfen zur Verfügung (z. B. Rollenkarten und Arbeitsaufträge), um den Lernenden eine Strukturhilfe zu geben. Während der Erarbeitungsphase unterstützen die Studierenden die Lernenden je nach Bedarf und ermöglichten so Scaffolding und Coaching.

ABSCHLUSS DER KO-KONSTRUKTION UND KO-KREATION

Die Phase der Ko-Konstruktion und Ko-Kreation fand zu Beginn der dritten Doppelstunde (s. u.) ihren Abschluss. 

III. AUTHENTISCHE LEISTUNG (1 DOPPELSTUNDE)

Zu Beginn der Doppelstunde bekamen die Lernenden noch 15 Minuten Zeit, um die Präsentation abschließend vorzubereiten. Im Anschluss an die Gruppenarbeit folgte die letzte Phase des Deeper Learning: die authentische Leistung. Die Lernenden stellten ihr erarbeitetes Wissen in verschiedenen selbst ausgewählten Methoden vor. Im Anschluss an die Präsentationen wurde der Arbeitsauftrag aus der ersten Stunde den Gesetzgebungsprozess aus Rollenkarten zu rekonstruieren wiederholt, um den Schüler:innen ihren Lernzuwachs zu verdeutlichen. Abschließend reflektierten die Lernenden zunächst schriftlich, dann per Wortmeldung die Unterrichtsmethode sowie ihren Lernerfolg.

UNTERRICHTSZIEL

Die Lernenden präsentieren ihr aufbereitetes Wissen in einer selbst gewählten Methode. Abschließend reflektieren sie die Unterrichtsmethode sowie ihren Lernerfolg.

ART DER PRÄSENTATION

Zwei Gruppen entschieden sich dazu, ein Rollenspiel zu planen; jeweils eine weitere Gruppe wählte das Plakat beziehungsweise das zu vertonende Video. Die jeweils fünf Schüler:innen pro Rollenspiel spielten eine Rolle, die in den Gesetzgebungsprozess involviert ist (z. B. Bundestagspräsident:in, Bundespräsident:in, Bundesregierung, Regierungspartei, Oppositionspartei und Erzähler:in) und stellten durch die chronologisch geordneten Wortbeiträge den Prozess der Gesetzgebung dar. Dabei wählte eine Gruppe zur Veranschaulichung des Prozesses ein Gesetz zur Legalisierung von Cannabis, während die andere das Beispiel des Tempolimits auf Autobahnen verwendete. Die beiden Gruppen zeigten eine hervorragende Leistung und auch die anderen Lernenden demonstrierten großes Interesse während der Vorstellung des Rollenspiels.
Die drei Schülerinnen, die den Gesetzgebungsprozess anhand eines Plakates veranschaulichten, hatten ausgiebig in verschiedenen Quellen recherchiert und stellten ihren Mitschüler:innen das Plakat in strukturierter Weise vor.
Auch die Videogruppe zeigte eine beeindruckende Leistung, indem sie ihren selbst geschriebenen erläuternden Text zum parallel dazu stumm laufenden Video vorlas. Die Mitschüler:innen verfolgten die Leistungen dieser beiden Gruppen ebenso aufmerksam. Besonders hervorzuheben ist der Abwechslungsreichtum der Präsentationsphase durch die verschiedenen Darstellungsarten, aber auch durch die kreativen und auf die Interessen der Schüler:innen angepassten Beispielgesetze. Durch dieses Projekt wurden die Deeper-Learning-Kompetenzen Kooperation und Kreativität maßgeblich gefördert.

ART DER REFLEXION

DLI Projektdoku Gesetzgebung – Kärtchen legen Überprüfung
Kärtchen legen zur Überprüfung | Bild: © Sittner/Kraus/Dickers

Die Reflexion fand in zwei Phasen statt:

  1. Individuelle Reflexion und Evaluation mit Hilfe eines anonymen Evaluationsbogens. Hierbei bewerteten die Lernenden folgende Aussagen jeweils auf einer vierstufigen Skala. Zudem konnten die Schüler:innen auf demselben Arbeitsblatt Methoden nennen, die ihnen besonders gut bzw. nicht so gut gefallen haben:
    • a. Das Thema Gesetzgebungsprozess finde ich interessant.
    • b. Die Zusammenarbeit in meiner Arbeitsgruppe hat gut funktioniert.
    • c. Ich weiß nun, wie der Gesetzgebungsprozess funktioniert.
    • d. Die Unterrichtseinheit zum Gesetzgebungsprozess hat mir Spaß gemacht.
    • e. Die verwendeten Methoden haben mir gut gefallen.
    • f. Die Rahmenbedingungen (Raum, Uhrzeit, …) waren angenehm.
  2. Nach der schriftlichen Evaluation hatten die Schüler:innen die Möglichkeit mündlich weitere Themen wie die Unterrichtsmethode und ihre Ausführung zu reflektieren und diskutieren.

VERANKERUNG IM BILDUNGSPLAN

Der Bildungsplan für Gemeinschaftskunde (Baden-Württemberg 2016) sieht das Unterrichtsthema Gesetzgebungsprozess für die Klasse 9 oder 10 vor. Unter 3.1.3.4 „Politischer Entscheidungsprozess in Deutschland“ ist Punkt (7) „den Gang der Gesetzgebung darstellen“ als Inhalt des Unterrichts vorgesehen. Eine Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Gesetzgebungsprozess von Zustimmungsgesetzen im Rahmen der Deeper-Learning-Einheit entspricht somit genau den Vorgaben des Bildungsplans 2016 für Baden-Württemberg. Zudem wird die Leitperspektive der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) bedient, da die Lernenden den deutschen Gesetzgebungsprozess als Prozess demokratischen Handelns der Institutionen erleben, deren parteiliche Zusammensetzung sie im volljährigen Alter bestimmen können. Das Verstehen des Gesetzgebungsprozesses als konflikthaften politischen Prozess, der verschiedene Akteure mit verschiedenen Interessen und einige „Stationen“ beinhaltet, förderte die Analysekompetenz der Schüler:innen. Die selbstständige Arbeit mit unterschiedlichen Medien und deren kritische Betrachtung stärkten zudem die Methodenkompetenz der Lernenden.